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Lösungsvorschlag – Praktischer Fall 7

Der Fall (siehe: https://www.soziale-schuldnerberatung-hamburg.de/?p=16964) ist der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.07.2019, Aktenzeichen: 2 BvR 881/17 entlehnt.

1. Regelfall: Frist versäumt

Im Regelfall wäre ein Einspruch vom 06.04.2020 gegen einen Vollstreckungsbescheid aus 2017 unzulässig, da viel zu spät – nämlich außerhalb der 2wöchigen Frist des § 339 Abs. 1 ZPO – erhoben.

Hier besteht aber die Besonderheit, dass der Schuldner vorträgt, er habe unter der im Vollstreckungsbescheid angegebenen Anschrift nie gewohnt. Im konkreten Fall versicherte er die Richtigkeit dieser Angabe an Eides statt und legte eine Meldebescheinigung gemäß § 18 Abs. 1 Bundesmeldegesetz vor.

2. Lösung: Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (§ 233 ZPO)??

Sowohl Amtsgericht als auch Landgericht wiesen den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarfen den Einspruch als unzulässig, weil auch die Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO abgelaufen sei („Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden.“)

3. unwirksame Zustellung !

Retter in der Not war schließlich das Bundesverfassungsgericht. Es erinnerte daran, dass die 2wöchige Frist zur Erhebung eines Einspruchs gegen einen Vollstreckungsbescheid (§ 339 Abs. 1 ZPO) erst mit der Zustellung des Vollstreckungsbescheids beginnt.

Des Weiteren erinnerte es daran, dass eine Zustellung nach § 180 Satz 1 ZPO durch Einlegung des Schriftstücks in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten unwirksam ist, wenn der Adressat der Zustellung (= Schuldner) die Wohnung, in der der Zustellungsversuch unternommen wird, tatsächlich gar nicht bewohnt (vgl. BGH, Urteil vom 14. September 2004 – XI ZR 248/03 -, Rn. 14). (Rn 18)

Dass der Schuldner in der Wohnung, in dessen Briefkasten der Vollstreckungsbescheid eingeworfen wurde, gar nicht wohnte, sah das Verfassungsgericht auf Grund der Meldebescheinigung und der eidesstattlichen Versicherung als wahrscheinlich. Die sog. „Beweiskraft“ der VB-Zustellungsurkunde (§ 182 ZPO) erstrecke sich nicht darauf, dass der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Februar 1992 – 2 BvR 884/91 -, Rn. 15).

Mit anderen Worten: Ohne (wirksame) Zustellung kein Fristbeginn.

Ohne Fristbeginn auch keine Fristversäumnis. Auf eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand kam es im vorliegenden Fall daher gar nicht an!

4. Achtung: es ist daran zu denken, dass eine unwirksame Zustellung nach § 189 ZPO „geheilt“ werden kann. Als eine solche Heilung käme ggf. die Übersendung der Kopie des Vollstreckungsbescheids in Betracht.


5. Exkurs: Ob jemand in einer Wohnung nun wohnt oder nicht, kann durchaus kniffelig sein und ist vor allem auch eine Beweisfrage.

Hierzu aus der BGH-Entscheidung XI ZR 248/03: „Die Ersatzzustellung nach § 182 ZPO a.F. setzt voraus, daß der Adressat der zuzustellenden Sendung die Wohnung, in der der Zustel lungsversuch unternommen wird, tatsächlich innehat, d.h. dort lebt und insbesondere auch schläft. Sie verliert ihre Eigenschaft als Wohnung, wenn der Zustellungsempfänger sie nicht mehr zu den vorgenannten Zwecken nutzt, sondern den räumlichen Mittelpunkt seines Lebens an einen anderen Aufenthaltsort verlagert. Dabei kann nicht allein auf die bloße Absicht des bisherigen Inhabers abgestellt werden, sondern sein Wille muß, ähnlich wie bei der Aufhebung des Wohnsitzes gemäß § 7 Abs. 3 BGB, in seinem gesamten Verhalten zum Ausdruck kommen. Aufgabewille und Aufgabeakt müssen, wenn auch nicht gerade für den Absender eines zuzustellenden Schriftstücks oder den mit der Zustellung beauftragten Postbediensteten, so doch jedenfalls für einen mit den Verhältnissen vertrauten Beobachter erkennbar sein (BGH, Urteil vom Oktober 1987 – VI ZR 268/86, VersR 1988, 415 m.w.Nachw.; BGH, Beschluß vom 19. Juni 1996 – XII ZB 89/96, NJW 1996, 2581). Sind diese strengen Voraussetzungen im konkreten Einzelfall erfüllt, kommt weder der Nichtanzeige des Umzugs bei der Meldebehörde und/oder der unterbliebenen Beseitigung des Namensschildes an der alten Wohnung noch der Möglichkeit, sie weiterhin aufzusuchen und die dort eingegangene Post zur Kenntnis zu nehmen, als bloße Indiztatsachen (siehe BGH, Urteil vom 27. Oktober 1987, aaO S. 415 f.; vgl. auch MünchKommZPO/Wenzel, 2. Aufl. § 181 Rdn. 3) eine entscheidende Bedeutung zu. Danach ist gegen die angefochtene Entscheidung insoweit nichts zu erinnern.“

6. Siehe auch BGH, 24.11.1977 – III ZR 1/76 zur Frage „Wohnung“ während des Verbüßens einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten