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AG Hannover zum Eigeninsolvenzantrag des obdach- bzw. wohungslosen Schuldners

Klaus Helke hat im April 2021 einen Praxisbericht aus Hannover zur Eröffnung Insolvenzverfahren und Wohnungslosigkeit gegeben (zur Meldung). Nun weisen wir auf den Beschluss des AG Hannover vom 17.03.2021 – 908 IK 180/21 – hin. Aus der sehr lesenswerten Entscheidung:

„Die amtlichen Antragsformulare für den Verbraucherinsolvenzantrag sind ordnungsgemäß ausgefüllt. In dem Umstand, dass die vom Schuldner in der Anlage 1 zum Eröffnungsantrag („Personalbogen“) unter „Wohnanschrift“ angegebene Anschrift tatsächlich nicht seiner (inexistenten) Wohnung entspricht, liegt kein Zulässigkeitsmangel. (…)

Die Angabe der Wohnanschrift auf dem amtlichen Personalbogen geht auf das verfahrensrechtliche Erfordernis zurück, dem Gericht eine ladungsfähige Anschrift des Schuldners mitzuteilen. Außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 304305 InsO, also für den Antrag auf Eröffnung des Regelinsolvenzverfahrens ergibt sich dieses Erfordernis über § 4 InsO aus dem entsprechend anwendbaren § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, wonach in der Klageschrift die Parteien zu bezeichnen sind (…)

Anderes gilt zu § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wie auch anderen Klageverfahren jedoch, wenn dem Kläger wegen Obdachlosigkeit ein Wohnsitz fehlt oder er ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse hat, die Gründe für die Nichtangabe der ladungsfähigen Anschrift dem Gericht glaubhaft mitgeteilt werden und die Identifizierung wie auch die Durchführbarkeit der Zustellungen auf andere Weise erfüllt bzw. sichergestellt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.11.1999, 1 BvR 1203/99, Rn. 1; BGH, Urt. v. 09.12.1987, IVb ZR 4/87, Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 14.02.2021, 9 B 79/11, Rn. 11 – juris; BFH, Urt. v. 19.10.2000, IV R 25/00 Rn. 19 – juris). Diese Ausnahmen folgen aus dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und im speziellen Fall der Obdachlosigkeit des Klägers auch aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. Becker-Eberhard in: Münchener Kommentar z. ZPO, 6. Aufl. 2020, ZPO § 253 Rn. 57).

Bei der Auslegung und Anwendung der §§ 13 Abs. 1 S. 1, 305 Abs. 1 S. 1 InsO sind diese verfassungsrechtlich untermauerten zivilprozessrechtlichen Grundsätze zu berücksichtigen. Für den Eigeninsolvenzantrag des obdachlosen Schuldners ist folglich nicht zwingend zu verlangen, dass er eine aktuelle Wohnungsanschrift in den Antragsunterlagen angibt. Für seine sichere Identifizierung genügt es, wenn er – wie hier geschehen – seine letzte Anschrift mitteilt und eine Fotokopie seines Personalausweises seinem Insolvenzantrag beifügt. Zur Sicherstellung des Schriftverkehrs ist es erforderlich, aber auch ausreichend, wenn er eine Postanschrift angibt, über die ihm aller Voraussicht nach Schriftstücke verlässlich zugehen können. Auch dem ist der Schuldner vorliegend nachgekommen.

Der Übertragbarkeit der vorstehenden Rechtsgrundsätze zu Klageverfahren auf das Insolvenzverfahren steht in systematischer Hinsicht § 27 Abs. 2 Nr. 1 InsO nicht entgegen. (…) Übertragen auf den hiesigen Fall eines obdachlosen Schuldners kann der Normfunktion dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass zusätzlich zu der aktuellen Anschrift, welche nicht die Wohnung bezeichnet, aber den Postverkehr mit dem obdachlosen Schuldner ermöglicht, auch seine letzte Wohnanschrift im Eröffnungsbeschluss aufgeführt wird. Auch das schafft hinreichend klare Verhältnisse, speziell für die Gläubigerschaft, der eine Personenzuordnung dadurch ermöglicht wird.“

Die Entscheidung unterscheidet nicht ganz sauber zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit. Siehe zu den Begrifflichkeiten die Erläuterung der Diakonie. Im entschiedenen Fall war die Sachverhalt so, dass der Schuldner in der Wohnung eines Freundes vorübergehend untergekommen war, nachdem er seine eigene Wohnung verloren hatte. Daher war er wohnungslos, nicht obdachlos.