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LSG Hamburg zur Darlehensgewährung für Mietkaution: „Fachanweisung der BASFI greift zu kurz“

Das Landessozialgericht Hamburg hat im Urteil vom 23.2.2017 (L 4 AS 135/15) zur Fachanweisung zu § 22 Abs. 6 und 8 SGB II Gewährung und Rückforderung kommunaler Darlehen vom 14.09.2011 (Gz.: SI 233/111.10-3-8-1) ausgeführt:

„Der Darlehensbescheid vom 17. September ist rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Entscheidung über die Form der Kautionsgewährung kein Ermessen ausgeübt hat, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre. Gemäß § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II in der hier anwendbaren Fassung vom 13. Mai 2011 soll eine Mietkaution als Darlehen erbracht werden. Damit ist die Mietkaution im Regelfall als Darlehen zu gewähren, in atypischen Fällen hat der Leistungsträger hingegen ein Ermessen hinsichtlich der Form der Gewährung der Kaution. Zu Recht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass hier ein atypischer Fall vorgelegen hat, der dem Beklagten ein Ermessen eröffnete.

Ein atypischer Fall ist dann anzunehmen, wenn sich die Situation des Betroffenen deutlich von derjenigen anderer Leistungsberechtigter unterscheidet und es deshalb nicht gerechtfertigt erscheint, ihn mit den typischen Folgen eines Darlehens zu belasten. Dabei ist es zur Überzeugung des Senats nicht ausreichend, allein auf die Frage der Zumutbarkeit einer Belastung mit (weiteren) Schulden abzustellen. Hiervon scheint aber die für den Beklagten maßgebliche Fachanweisung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) zu § 22 Abs. 6 und 8 SGB II – Gewährung und Rückforderung kommunaler Darlehen vom 14. September 2011 (Gz.: SI 233/111.10-3-8-1) auszugehen. In dieser werden unter Ziffer 2.1.3.1 als atypische Ausnahmefälle nur solche anerkannt, bei denen eine Gewährung als Darlehen den Abbau von Integrationshemmnissen gefährden würde. Wörtlich heißt es dort: „Die Bewilligung der unter Ziff. 2.1.2.1 aufgeführten Leistungen als Beihilfe ist nur in folgenden atypischen Ausnahmefällen, bei denen eine Gewährung als Darlehen den Abbau von Integrationshemmnissen gefährden würde, denkbar: • bei Gefährdung der Ergebnisse einer lfd. Schuldnerberatung • bei Einleitung oder Eröffnung eines Privatinsolvenzverfahrens • bei eidesstattlicher Versicherung über Vermögenslosigkeit • bei langfristigen Rückzahlungsverpflichtungen aufgrund früherer Hilfedarlehen.“

Diese Sichtweise greift in zweierlei Hinsicht zu kurz: Zum einen kann im Einzelfall nicht bzw. nicht nur die Belastung mit weiteren Schulden, sondern auch die Tilgung des Darlehens durch Aufrechnung mit dem Leistungsanspruch unzumutbar sein. Die Aufrechnung führt im Ergebnis dazu, dass der Leistungsberechtigte jeden Monat einer Kürzung seiner Leistungen um 10% des Regelbedarfs ausgesetzt ist und dies – je nach Höhe der Mietkaution – u.U. für einen Zeitraum von mehreren Jahren. Diese Kürzung der laufenden Leistung mag zwar im Regelfall hinzunehmen sein, doch ist zu prüfen, ob sie aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls unzumutbar ist. Durch eine Einbeziehung dieser Überlegungen in die Prüfung des atypischen Falls kann zugleich den Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität des § 42a SGB II in Hinblick auf Mietkautionen (vgl. hierzu Conradis, in: LPK-SGB II, § 42a Rn. 17; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.11.2013 – L 10 AS 1793/13 B PKH; Thüringer LSG, Beschluss vom 2.1.2014 – L 9 AS 1089/13 B; SG Berlin, Beschluss vom 30.9.2011 – S 37 AS 24431/11 ER; auch das BSG hat in seinem Beschluss vom 29.6.2015 – B 4 AS 11/14 R Zweifel daran geäußert, ob Mietkautionsdarlehen bedingungslos der Regelung des § 42a SGB II unterfallen; keine verfassungsrechtlichen Bedenken sehen hingegen das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 12.3.2015 – L 20 AS 261/13 und das LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.9.2013 – L 3 AS 5184/12) Rechnung getragen werden.

Zum anderen ist die Beschränkung der Annahme eines atypischen Falls auf Konstellationen, in denen sich die Unzumutbarkeit allein aus der Belastung mit (weiteren) Schulden ergibt, offensichtlich vor dem Hintergrund erfolgt, dass als mögliche Alternative zum Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung allein ein Zuschuss („Beihilfe“) in Betracht gezogen wurde. Diese Beschränkung der möglichen Alternativen ist jedoch nicht zwingend. Wie bereits das LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 23. April 2015 (L 7 AS 1451/14) ausgeführt hat, steht eine Beschränkung der Wahlmöglichkeiten auf die Alternativen „Darlehen mit Tilgung durch Aufrechnung“ und „Zuschuss“ nicht in Einklang mit dem Grundsatz, dass eine Vermögensbildung durch SGB II-Leistungen nicht stattfinden soll (dazu BSG, Urteil vom 7.7.2011 – B 14 AS 79/10 R m.w.N.). Die Gewährung der Mietkaution als Zuschuss ist in den Fällen, in denen die Unzumutbarkeit nicht auf der Belastung mit (weiteren) Schulden als solche, sondern auf der Kürzung der laufenden Leistung durch die Aufrechnung zum Zwecke der Tilgung beruht, auch nicht erforderlich und würde über das Ziel der Vermeidung unzumutbarer Belastungen hinausgehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, weitere Alternativen der Kautionsgewährung zuzulassen. In Betracht kommt insbesondere die Gewährung eines Darlehens ohne Tilgung durch Aufrechnung (so auch das LSG Nordrhein-Westfallen, a.a.O.), wobei die nähere Ausgestaltung (z.B. Fälligkeit erst bei Auszug aus der Wohnung, Sicherung durch Abtretung des Anspruch aus Kautionsrückzahlung gegen den Vermieter) dem Ermessen des Leistungsträgers überlassen bleibt.“

siehe auch  Kampagne gegen verfassungswidrige Aufrechnung unterhalb des Existenzminimums